Über den Tellerrand hinaus

Wenn im Jahr 1840 in Baden die Französische Krankheit ausbrach oder in Wettingen der Brunnen verstopfte, mussten diese Gemeinden selber schauen, wie sie die Situation in den Griff bekamen. Im Jahr 2014 ist das im Grunde immer noch so – auch wenn die Gemeinden vermehrt kooperieren. Es ist Zeit, dies zu ändern. Es ist Zeit für ein regionales Bewusstsein.

Henri Dufour war ein moderner Mann. Seine Karte der Schweiz entstand parallel zum Bundesstaat und diente symbolisch der Zusammenführung der Kantone. Eine Prise dieses Denkens ist nötig, um heute mit der nötigen Weitsicht die Weichen für die Zukunft der Region Baden zu stellen. Anlass dazu gibt es genug: Eine beständig wachsende Bevölkerung stellt komplexere Anforderungen in den Bereichen Versorgung, Wohnraum und Mobilität. Um den gleichen Raum buhlt ein attraktiver Wirtschaftsstandort. Der verbliebene Freiraum, sei er landschafts- oder siedlungsorientiert, präsentiert sich in den Zentren entsprechend lücken- und fragmentenhaft. Kurz: Der Entwicklungsdruck hat seit 1840 zugenommen und führt zu Nutzungskonflikten zwischen Siedlung und Landschaft. Die Region Baden braucht dringend eine verbindliche Regelung von Siedlung und Verkehr, denn der Sumpf der Zersiedelung birgt zu viele Risiken.

Gemeinsam stark

Hierin sind sich alle einig: Der Lebens-, Wirtschafts- und Erholungsraum soll von hoher Qualität, wettbewerbsfähig, ressourcenschonend und identitätsstiftend sein. Es ist illusorisch, zu glauben, dieses Ziel könne im Alleingang erreicht werden. Es reicht nicht mehr, zusammen die Abfallsäcke zu verbrennen und die Stadtpolizei auch nach Freienwil aufzubieten. Unsere Handlungsräume und damit die eigentlichen Herausforderungen sind heute dermassen vernetzt, dass ihnen mit dem Territorialitätsprinzip nicht mehr beizukommen ist.

Die Handlungsfelder

In erster Priorität sollten die Regionsgemeinden ihre kommunalen Zonenpläne untereinander abstimmen. Auf diese Weise können sie festlegen, wo wie gesiedelt, gearbeitet und wo die Natur belassen wird. Weil weiteres Wachstum grundsätzlich nur über Innenentwicklung und den öffentlichen Verkehr in verträglicher Weise zu haben ist, wäre es klug, bald entsprechende Zonen zu bezeichnen und die Erschliessung zu planen. Gleiches gilt für die Arbeitsplatzentwicklung. Die Gemeinden können „Branchenschwerpunkte“ aufzeichnen – Stichwort „Gesundheit“ in Dättwil, „Hightech“ in Würenlingen – und dabei trotzdem eine gesunde Diversifizierung fördern, damit einer Branchenkrise nicht ein kommunaler Kollaps folgt. Verkehrstechnisch müssen sich die Verkehrsträger in der Region ergänzen. ÖV und Langsamverkehr müssen mittels Konzepten und Ausbau, u.a. der Limmattalbahn und einer S-Bahn auf dem Nationalbahntrassee, auch in ländlichen Gemeinden attraktiver gemacht werden. Siedlungsnahe Naturräume müssen erhalten und aufgewertet werden. Die Gemeinden werden hoffentlich eher früher als später erkennen, dass eine weitsichtige Stärkung unserer Region nur noch auf zwei Wegen erreicht werden kann: Mit regionalen Sachplänen (behördenverbindlich) oder mit Gemeindefusionen im grösseren Umfang.

Wie lange dauert Schneckenhaus?

Menschen binden sich mitunter deshalb, weil das Leben als organisatorische und ökonomische Schicksalsgemeinschaft einfacher zu bewältigen ist. Gleiches gilt für Gemeinden ‒ praktischerweise ohne sittliche Limite bei der Anzahl der Ehegatten. Als die Stadt Baden ihr neues Planungsleitbild und damit ihre Fusionsabsicht in die Vernehmlassung schickte, reichten die Reaktionen der Nachbarn von Gesprächsbereitschaft bis Ablehnung. Letztere gründete stets in einer Kritik am Wachstum und in der Furcht, ‚die Stadt‘ wolle sich auf die Kosten ‚des Dorfes‘ vergrössern und ihm die Identität rauben. Diese Bedenken sind in gleichem Masse zulässig, wie sie einer regionalen Entwicklung abträglich sind, wenn sie zu lange nicht diskutiert und ausgeräumt werden. Aufgabe der nächsten zehn Jahre wird es sein, diese Diskussion zu führen. Parallel dazu müssen die Regionsgemeinden die überkommunalen Bereiche der räumlichen Entwicklung durch regionale Sachpläne regeln.

Den Gemeinden steht mit Baden Regio ein Planungsverband zur Verfügung, dem sogar kommunale Aufgaben, etwa die Raumentwicklung, übertragen werden können. Das Arbeitsprogramm 2014 von Baden Regio sieht zwar in Entwicklungs-, Verkehrs- und Zonierungsfragen Konzepte, Abstimmung und Strategien vor, die Schaffung eines behördenverbindlichen Sachplans sucht man indes vergebens. Warum so mutlos? Entscheidend ist die Geisteshaltung: Der Präsident von Baden Regio, der Gemeindeammann von Wettingen, erklärte kürzlich in einem Interview anlässlich der Herbstmesse in Wettingen, die Wettinger wollten zeigen, dass sie keine „Schneckenhäusler“ seien. Das ist nett. Im gleichen Atemzug verneinte er die ‒ zugegebenermassen deplazierte ‒ Frage, ob eine regionale Messe in Baden nicht besser aufgehoben wäre. Lokales Selbstbewusstsein ist auch einem Verbandspräsidenten zuzugestehen, doch nun kommt der Fisch. Grund für die Ablehnung: Messebesucher seien eben motorisiert und nur Wettingen biete 1000 Gratisparkplätze. Mit Verlaub: Solange der Wunsch nach Öffnung reflexartig die Zelebration des Status Quo nach sich zieht ‒ genau so lange dauert Schneckenhaus. Wussten Sie, dass Schnecken drei Jahre am Stück schlafen können?

Hannes Streif

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